Beijing / Zürich / Berlin
Ermitage in Arlesheim – Werkstatt der Utopien
Symposien, Anthologie und Internetauftritt
2002
„Utopisches Denken ist nicht Kritik allein. Es ist auch Gedankenspiel, Kunst, Konstruktion, Erfindung des Neuen, Denken des bisher Ungedachten, Traum und Vision.“ — Hans Saner, 1998
Von keltischen Ritualen bis zu freimaurerischen Tätigkeiten – von Gralssuchern bis zu Geomantikern – seit Urzeiten ist das Tal zwischen Birseck und Gempenplateau Treffpunkt von Menschen, die nach dem Sinn des Lebens suchen.
Immer wieder sprechen Besucher von einer besonderen Ausstrahlung der Ermitage, wenn sie die Anlage am Berghügel Birseck mit Felsen, Grotten und Höhlen, mit Aussicht auf Tal und Berge sowie einem Bach mit drei Fischteichen und zwei Mühlen durchwandert haben. Die Aura des Geländes interpretieren wir heutzutage als einen Aufruf zum Innehalten, zum Reflektieren. Diese Idee der ortsspezifischen Vergegenwärtigung unseres Daseins nutzend, bietet sich die Ermitage aus ihrer Geschichte heraus als „Werkstatt der Utopien“ an.
Wir stehen am Anfang eines neuen Jahrtausends. Da stellen sich die Menschen unweigerlich Fragen: Wie verändert sich die Welt? Wie entwickelt sich Europa? Wie stehe ich zu den Neuerungen?
Nach der gesellschaftlichen und politischen Wende 1989 im Osten Europas wurde von Francis Fukuyama (Direktor des Planungsstabs im Aussenministerium der USA) die These vom „Ende der Geschichte“ verbreitet. Doch bald entpuppte sich dieser Gedanke, der als solcher ursprünglich eine marxistische und darüber hinaus eine religiös chiliastische Idee ist, als nicht haltbar. Mit 89 war nicht das „Ende der Utopien“ sondern das Ende der Verkehrung einer Utopie eingetreten. Doch nach all dem Desaster das im Namen von grossen gesellschaftlichen Utopien im vergangenen Jahrhundert über die Menschheit hereinbrach, fiel es im letzten Jahrzehnt schwer, noch über Utopien nachzudenken. Weltübergreifender Kapitalismus und ein moderner Liberalismus schienen den eigenen Denkraum zu bestimmen. Doch gerade das Fehlen überlieferter Gesellschaftsutopien verhalf neuen Ideen in den politischen Diskurs. Eine davon lautet, dass nach dem Ende des Kampfes der grossen Ideologien ein Konflikt der Kulturen bevorstehe (Clash of Civilisations).
Utopien im klassischen Sinn, seien es nun negativ formulierte wie bei Samjatin, Aldous Huxley und George Orwell, oder positive wie bei Thomas Morus, Thomas Campanella oder Francis Bacon sind immer von der Hypothese eines einheitlichen Gemeinwesens ausgegangen. In unserer Gesellschaft des individuellen Handelns, der Neuen Medien und der Globalisierung greifen diese Ängste und Hoffnungen nicht mehr. Heute wird nicht mehr Anspruch auf Universalität erhoben, sondern der Spielraum zum individuellen Leben genutzt. Die Menschen suchen nach alternativen Ordnungskonzepten, welche die „kalte Vernunft“ nicht gewährt. Doch allzu oft zerfällt der Diskurs im Spannungsverhältnis von Hightech- und Naturphilosophien in immer beliebigere Teile, bis nur noch Bruchstücke privater Utopien übrigbleiben.
Die „Werkstatt der Utopien“ setzt hier mit der Arbeit ein. Sie setzt Vermittlung und Verschaltung in Gang, wirkt wie ein Gärtner, der wild wachsende Ideen zusammen-, auseinander- oder aneinander stellt. Denn der einzelne Gedanke für sich allein ist weder wichtig noch unwichtig, erst die Nachbarschaft schafft bedeutungsvolle Beziehungen.
Der Garten, die Ermitage selbst ist das Urarchiv der Werkstatt. Die kulturelle und gesellschaftliche Nutzung der Ermitage gründet sich auf die Epoche der Aufklärung, welche die Anlage im späten 18. Jahrhundert inspiriert hat.
Ermitage bedeutet Einsiedelei und ist ein einsam gelegenes, kleines Land-/Gartenhaus. Diese Einsiedelei befähigte diejenigen, die sich in ihre Obhut begaben, zu einem Aufbau ihres inneren Archivs, kontemplativer Gedankenarbeit und einer wahrnehmbaren Sammlung und Konzentration.
An diese Tradition anknüpfend, ist die Ermitage wie eine Gedankenwerkstatt zu betrachten, in der Ideen zur gesellschaftlichen Entwicklung der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesammelt, diskutiert, verknüpft und letztendlich neu entwickelt werden. Im Blickpunkt stehen die Zwischenräume, Markierungen und Wegkreuzungen, an denen sich Gedanken verzweigen oder neu ereignen. Die Ermitage wird zur Denkwerkstatt mit Archiv und Netzwerk, zum Ort der Begegnung und des Austauschs, der Forschung und der Publikation. Der Dialog wird umso ergiebiger, je grösser der Unterschied zwischen den daran beteiligten Partnern ist. Das setzt voraus, dass Menschen aus vielen Fachgebieten zusammenkommen und dass sich dadurch die Grenzen zwischen Kunst, Wissenschaft, Technik, Politik usw. verwischen.
Orte der Begegnung sind Symposien, einzelne und intermediale Projekte, Ausstellungen sowie reale Orte der „Zukunftsarbeit“ (z.B. Bloch-Zentrum, Ludwigshafen; Museum Casa Anatta, Monte Verità; Garten der Künste, Hombroich) und virtuelle Orte im Internet {z.B. CALC (vom lateinischen calculi, kleine Steine) versteht sich als Teil eines globalen Mosaiks, das Zukunft entwirft, formt und transformiert}. So entsteht ein Weltgarten der Utopien.
Dieser „Garten der Welt“ lässt die Ermitage zu einem unerlässlichen Bezugselement der menschlichen Selbstverortung werden. Gerade ihre hybride, aus Wildswuchs und Kalkül gekreuzte Natur lässt einen virtuellen Ort entstehen, einen Knotenpunkt subjektiver wie kollektiver Erinnerung, Erfahrung und Erwartung.
Gespräche über die Utopie – Das Prinzip Werkstatt
Schnittstelle Utopie
Auftaktsymposium 8., 9., und 10. März 2002
Ort: Arlesheims
Freitag 8. März
14 Uhr Ankunft
14.30 Uhr Öffentlicher Rundgang durch die Anlage der Ermitage
16 Uhr Referat über die Utopien in der Geschichte der Ermitage
17–18 Uhr Pause
18–21 Uhr Podiumsdiskussion über „Utopie als Existenz und Experiment“ mit fünf Teilnehmern aus Forschung, Wissenschaft, Kultur und Philosophie
Samstag 9. März
11–16 Uhr Referate über Visionen und Utopien aus dem Fachbereich der Referenten
18 Uhr Öffentliche Diskussion über Visionen zur Ermitage
Sonntag
11 Uhr literarische Lesung zum Thema Utopie
Abfahrt
Internetauftritt
Wettbewerb: „Die Gestaltung der virtuellen Werkstatt der Utopien“
Der Internetauftritt der Ermitage erfüllt mehrere Aufgaben: Programmübersicht, Virtuelles Diskussionsforum, Archiv der Utopien, Übertragung der Veranstaltungen, Publikation der erarbeiteten Texte und Bilder.
Der Internetauftritt ist die erste permanente Bespielung der Ermitage. Alle anderen Projekte sind vorerst temporär. Das Internet ist Schaufenster für die Welt in die Ermitage und zugleich Netzwerk für die wissenschaftlich und künstlerisch Arbeitenden der Werkstatt der Utopien.
Für die Gestaltung der virtuellen „Werkstatt der Utopien“ wird ein Wettbewerb unter Künstlern ausgeschrieben. In einer internen Ausschreibung werden bis zu fünf mit dem Internet arbeitende Künstler angesprochen, um einen der Ermitage entsprechenden virtuellen Auftritt zu gestalten. Aus den eingereichten Konzepten wird eine Arbeit prämiert und realisiert. Daneben muss ein Programmierer die Seite und einzelne Fenster einrichten und pflegen.
Zeitreisende in Sachen Utopie
„Anthologie“ – Publiziert in einer Sondernummer des „DU“
Geistes-, Natur- und Kulturwissenschaftler, Literaten und Künstler schreiben zu Utopien aus der Geschichte der Ermitage oder zu Visionen aus der Begegnung mit der Ermitage. 10 Paare, d.h. 20 Schreibende, erleben die Ermitage in Arlesheim, um in gemeinsamen Gesprächen auf Utopien einzugehen oder neue zu entwickeln.
Den Schreibauftrag erhalten jeweils zwei aus unterschiedlichen Bereichen, also ein Biologe und ein Literat oder ein Philosoph und ein Architekt. Sie werden sich gemeinsam ihrem Thema annähern und ganz unterschiedliche Ausführungen erarbeiten.
Nach ca. einem Jahr sollten die Ergebnisse vorliegen.
Folgende interdisziplinär arbeitende Persönlichkeiten sind angefragt:
- Adolf Muschg
- Peter von Matt
- Hugo Loetscher
- Erica Pedretti
- Urs Widmer
- Alberto Nessi
- Paul Nizon
- Heinz Schaffroth
- Martin Schaffner
- Anton Föllmi
- Jörg Steiner
- Hans Saner
- Alice Vollenweider
- Peter Burri
- Hans Joachim Müller
- Gunhild Kübler
- Beatrice von Matt
- Iso Camartin
- Egon Ammann
- Jakob Tanner
- Samuel Keller
- Peter Pakesch
- Dieter Bachmann