Die Geschichte eines Briefwechsels von 1949–1989 — Eine Recherche
2003–2010
Olga Lee, geb. Ruesch, St. Gallen/Peking
Charlotte Wasser, geb. Sille, Breslau/Berlin
Beim Ordnen des Nachlasses meiner Mutter Charlotte Wasser, die im August 2001 starb, fand ich ca. tausend Briefe, die den vierzigjährigen Briefwechsel zwischen der Literaturwissenschaftlerin und Lektorin Charlotte Wasser aus Berlin und der Professorin für deutschsprachige Literatur an der Universität Peking Olga Lee enthalten.
Zwei Frauen, die sich nur einmal in ihrem Leben auf abenteuerlichem Weg begegnen sollten; Zwei Biografien geprägt von Gesellschaftssystemen, welche die einst erkämpften sozialen Errungenschaften recht schnell mit diktatorischem Freiheitsentzug verknüpften; Zwei Persönlichkeiten, die sich auf eine grosse Entfernung miteinander verbunden fühlten und die für die Politik, die Literatur und ihre ganz persönliche Wahrheitssuche, ihr Leben riskierten.
In ihren Briefen, die über lange Zeit die einzige Form der Kommunikation bleiben sollten, entsteht nicht nur ein klares Bild von den gesellschaftlichen und religiösen Werten der Nachkriegszeit in der Schweiz und in Deutschland, sondern auch von deren Wandel, den die politischen Umbrüche in der Welt nach sich zogen. Olga Lee zog von der Schweiz nach China, Charlotte Wasser von Deutschland in die DDR; beide Veränderungen waren gravierend genug, um ihre humanistische Grundhaltung auf harte Proben zu stellen. So gerieten sie des öfteren in Gewissenskonflikte, wenn politische Funktionäre verlangten, gegen ihre Mitmenschen Stellung zu beziehen. Doch beide verweigerten dies und bekamen die Konsequenzen unerbittlich zu spüren. Diese Entscheidungen resultierten aus religiöser nicht aus kommunistischer Erziehung, ein Widerspruch, der nicht wegzureden war und bis zuletzt ihr Leben bestimmte.
In den Briefen findet sich nicht nur ausreichend Material für die Forschung über Kultur und Geschichte der beiden Länder, sie sind auch eine Fundgrube von philosophischen, politischen und ganz alltäglichen Auseinandersetzungen im Kontext ihrer Zeit. Für Literaturinteressierte kommt überdies hinzu, an dem reichen und tiefen Austausch der Wissenschaftlerinnen über die Liebe zur Literatur, der Verehrung von Autorinnen und Autoren beider Länder sowie dem Versuch einer Vermittlung dieser Literaturen über die Sprachgrenzen hinweg, teilhaben zu können.
In den turbulenten Zeiten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der sich Phasen der politischen Eiszeit mit Tauwetterperioden abwechselten, wurden die Frauen immer wieder zum Spielball der Ereignisse. So wurde die eine in der DDR durch den Staatssicherheitsdienst überwacht und die andere in China immer wieder unter Hausarrest gestellt oder zur „Umerziehung“ aufs Land geschickt. Wenn der briefliche Kontakt abriss, waren beide in grosser Sorge, denn andere Wege der Verständigung gab es nicht. Wie auf den Umschlägen vermerkt, gelangten die Briefe via Moscow oder via Sibirja an ihre Adressaten, und man braucht heute nicht viel Phantasie, um sich die zahlreichen Mitleser vorzustellen.
Olga Lee wurde mehrmals aufgrund wechselnder politischer Direktiven rehabilitiert, ein Umstand, der ihrer chinesischen Familie wieder ein öffentliches Leben erlaubte. Ähnlich erging es Charlotte Wasser, die wiederholt auf obersten Befehl hin ihren Arbeitsplatz verlor und nur Dank eines Netzes treuer Freunde, ihr Überleben sichern konnte. Dass beide dennoch nicht ihr Land verliessen, dass sie trotz allem der kommunistischen Idee, als der alleinigen Zukunftsperspektive der Menschheit die Treue hielten, erscheint uns heute schwer verständlich, aber auch darüber geben die Briefe Auskunft. Die Auseinandersetzungen, die sie sowohl über ihren Anspruch, als auch über die realen Bedingungen des Lebens führten, haben sie nie an der Einlösung ihrer Ansprüche zweifeln lassen, ganz im Gegenteil, sie haben ihre Forderungen nach der öffentlichen und sozialen Aufgabe von Politik und Kultur eher noch verstärkt.
Nach langen konspirativen Vorbereitungen gelang es den beiden Frauen sich ein einziges Mal in einem kleinen Ort in der Schweiz zu treffen. Diese für beide berührende Begegnung ist nur der Mithilfe zahlreicher Menschen, vor allem in der Schweiz, zu verdanken.
Beim Lesen der Briefe entsteigen dem Papier sehr schnell zwei Schicksale, die auf höchst lebendige Weise unsere Vorstellungen einer vergangenen Welt korrigieren und ergänzen.
Die ca. 1000 Briefe, die von Olga Lee erhalten sind, beziehen auch immer die Fragestellungen und Antworten von Charlotte Wasser ein. Sollte es gelingen, auch ihre Briefe bei den Kindern Olga Lees in Peking zu finden, wäre der auf diese Weise dokumentierte Dialog perfekt. Aber zum einen ist es nicht sicher, dass die Familie sie aufgehoben hat, zum anderen, dass sie mir überhaupt ausgehändigt würden.
Die vorliegenden Briefe erhalten zusätzlichen Zündstoff, wenn sie vor dem politischen Hintergrund und im Zusammenhang dieser 40 Jahre reflektiert werden. Beigelegte Zeitungsausschnitte dokumentieren zum Teil die damalige offizielle Praxis der Innenpolitik, aber auch die Konflikte, die aus dem militärischen Kräftemessen der Ost- und Westmächte erwachsen waren.
Der Zustand der Briefe ist, zumindest was die Zeit von 1949-1970 betrifft, sehr fragil, da sie zumeist auf dünnem Seidenpapier, bzw. auf Durchschlagpapier geschrieben wurden. Nach der Sichtung sollten die Briefe schnellstens transkribiert, eventuell fotokopiert werden.
Als Abschluss dieses Projekts ist eine Publikation geplant.
Die Geschichte eines Briefwechsels von 1949–1989 — Eine Recherche
2003–2010
Olga Lee, geb. Ruesch, St. Gallen/Peking
Charlotte Wasser, geb. Sille, Breslau/Berlin
Beim Ordnen des Nachlasses meiner Mutter Charlotte Wasser, die im August 2001 starb, fand ich ca. tausend Briefe, die den vierzigjährigen Briefwechsel zwischen der Literaturwissenschaftlerin und Lektorin Charlotte Wasser aus Berlin und der Professorin für deutschsprachige Literatur an der Universität Peking Olga Lee enthalten.
Zwei Frauen, die sich nur einmal in ihrem Leben auf abenteuerlichem Weg begegnen sollten; Zwei Biografien geprägt von Gesellschaftssystemen, welche die einst erkämpften sozialen Errungenschaften recht schnell mit diktatorischem Freiheitsentzug verknüpften; Zwei Persönlichkeiten, die sich auf eine grosse Entfernung miteinander verbunden fühlten und die für die Politik, die Literatur und ihre ganz persönliche Wahrheitssuche, ihr Leben riskierten.
In ihren Briefen, die über lange Zeit die einzige Form der Kommunikation bleiben sollten, entsteht nicht nur ein klares Bild von den gesellschaftlichen und religiösen Werten der Nachkriegszeit in der Schweiz und in Deutschland, sondern auch von deren Wandel, den die politischen Umbrüche in der Welt nach sich zogen. Olga Lee zog von der Schweiz nach China, Charlotte Wasser von Deutschland in die DDR; beide Veränderungen waren gravierend genug, um ihre humanistische Grundhaltung auf harte Proben zu stellen. So gerieten sie des öfteren in Gewissenskonflikte, wenn politische Funktionäre verlangten, gegen ihre Mitmenschen Stellung zu beziehen. Doch beide verweigerten dies und bekamen die Konsequenzen unerbittlich zu spüren. Diese Entscheidungen resultierten aus religiöser nicht aus kommunistischer Erziehung, ein Widerspruch, der nicht wegzureden war und bis zuletzt ihr Leben bestimmte.
In den Briefen findet sich nicht nur ausreichend Material für die Forschung über Kultur und Geschichte der beiden Länder, sie sind auch eine Fundgrube von philosophischen, politischen und ganz alltäglichen Auseinandersetzungen im Kontext ihrer Zeit. Für Literaturinteressierte kommt überdies hinzu, an dem reichen und tiefen Austausch der Wissenschaftlerinnen über die Liebe zur Literatur, der Verehrung von Autorinnen und Autoren beider Länder sowie dem Versuch einer Vermittlung dieser Literaturen über die Sprachgrenzen hinweg, teilhaben zu können.
In den turbulenten Zeiten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der sich Phasen der politischen Eiszeit mit Tauwetterperioden abwechselten, wurden die Frauen immer wieder zum Spielball der Ereignisse. So wurde die eine in der DDR durch den Staatssicherheitsdienst überwacht und die andere in China immer wieder unter Hausarrest gestellt oder zur „Umerziehung“ aufs Land geschickt. Wenn der briefliche Kontakt abriss, waren beide in grosser Sorge, denn andere Wege der Verständigung gab es nicht. Wie auf den Umschlägen vermerkt, gelangten die Briefe via Moscow oder via Sibirja an ihre Adressaten, und man braucht heute nicht viel Phantasie, um sich die zahlreichen Mitleser vorzustellen.
Olga Lee wurde mehrmals aufgrund wechselnder politischer Direktiven rehabilitiert, ein Umstand, der ihrer chinesischen Familie wieder ein öffentliches Leben erlaubte. Ähnlich erging es Charlotte Wasser, die wiederholt auf obersten Befehl hin ihren Arbeitsplatz verlor und nur Dank eines Netzes treuer Freunde, ihr Überleben sichern konnte. Dass beide dennoch nicht ihr Land verliessen, dass sie trotz allem der kommunistischen Idee, als der alleinigen Zukunftsperspektive der Menschheit die Treue hielten, erscheint uns heute schwer verständlich, aber auch darüber geben die Briefe Auskunft. Die Auseinandersetzungen, die sie sowohl über ihren Anspruch, als auch über die realen Bedingungen des Lebens führten, haben sie nie an der Einlösung ihrer Ansprüche zweifeln lassen, ganz im Gegenteil, sie haben ihre Forderungen nach der öffentlichen und sozialen Aufgabe von Politik und Kultur eher noch verstärkt.
Nach langen konspirativen Vorbereitungen gelang es den beiden Frauen sich ein einziges Mal in einem kleinen Ort in der Schweiz zu treffen. Diese für beide berührende Begegnung ist nur der Mithilfe zahlreicher Menschen, vor allem in der Schweiz, zu verdanken.
Beim Lesen der Briefe entsteigen dem Papier sehr schnell zwei Schicksale, die auf höchst lebendige Weise unsere Vorstellungen einer vergangenen Welt korrigieren und ergänzen.
Die ca. 1000 Briefe, die von Olga Lee erhalten sind, beziehen auch immer die Fragestellungen und Antworten von Charlotte Wasser ein. Sollte es gelingen, auch ihre Briefe bei den Kindern Olga Lees in Peking zu finden, wäre der auf diese Weise dokumentierte Dialog perfekt. Aber zum einen ist es nicht sicher, dass die Familie sie aufgehoben hat, zum anderen, dass sie mir überhaupt ausgehändigt würden.
Die vorliegenden Briefe erhalten zusätzlichen Zündstoff, wenn sie vor dem politischen Hintergrund und im Zusammenhang dieser 40 Jahre reflektiert werden. Beigelegte Zeitungsausschnitte dokumentieren zum Teil die damalige offizielle Praxis der Innenpolitik, aber auch die Konflikte, die aus dem militärischen Kräftemessen der Ost- und Westmächte erwachsen waren.
Der Zustand der Briefe ist, zumindest was die Zeit von 1949-1970 betrifft, sehr fragil, da sie zumeist auf dünnem Seidenpapier, bzw. auf Durchschlagpapier geschrieben wurden. Nach der Sichtung sollten die Briefe schnellstens transkribiert, eventuell fotokopiert werden.
Als Abschluss dieses Projekts ist eine Publikation geplant.
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